Inobhutnahme von Kindern und Jugendlichen (§ 42 SGB VIII)

Mit der Inobhutnahme (ION) wird die vorläufige Aufnahme und Unterbringung eines Kindes oder eines Jugendlichen in einer akuten Notsituation durch das Jugendamt bezeichnet. Sie ist als schnelle und möglichst unbürokratische Maßnahme zugunsten eines Minderjährigen zu verstehen, um den unmittelbaren Kinderschutz während der Zeitspanne zu gewährleisten, in der geklärt wird, ob eine Kindeswohlgefährdung vorliegt bzw. welche nächsten Schritte zum Wohle des betroffenen jungen Menschen eingeleitet werden müssen.

 

Rechtlich wird die Inobhutnahme in §42 SGB VIII geregelt. Das Jugendamt kann ein Kind/Jugendlichen in Obhut nehmen, wenn:

  • das Kind oder der Jugendliche um Obhut bittet
  • eine dringende Gefahr für das Wohl des Kindes oder des Jugendlichen die Inobhutnahme erfordert und
    • die Personensorgeberechtigten nicht widersprechen oder
    • eine familiengerichtliche Entscheidung nicht rechtzeitig eingeholt werden kann oder
  • ein ausländisches Kind oder ein ausländischer Jugendlicher unbegleitet nach Deutschland kommt und sich weder Personensorge- noch Erziehungsberechtigte im Inland aufhalten. (SGB VIII, §42, Abs. 1)

Die Inobhutnahme erfolgt durch das Jugendamt oder andere autorisierte Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe. Die Unterbringung kann bei einer geeigneten Person, in einer geeigneten Einrichtung oder in einer sonstigen Wohnform erfolgen. Das Jugendamt entscheidet einzelfallbezogen, welches Setting geeignet und situationsangemessen ist. Das Ziel der Inobhutnahme ist es, den unmittelbaren Schutz und das Wohlergehen des Minderjährigen sicherzustellen. Im Anschluss wird eine umfassende Hilfeplanung eingeleitet, um geeignete Maßnahmen für die weitere Betreuung und Unterstützung festzulegen.

Aufgrund der aktuell hohen Zugangszahlen und dem damit verbundenen Unterbringungsdruck haben einige Bundesländer die Möglichkeit eröffnet, zeitlich befristet Unterbringungsplätze unterhalb der sonst geltenden Vorschriften der Betriebserlaubnis zu schaffen (Lockerung der Betriebserlaubnis und Möglichkeit des Betriebs von Notunterkünften).

Aufgaben im Rahmen der Inobhutnahme (ION) im Überblick

  • Feststellung der Voraussetzungen zur Inobhutnahme (auf Grundlage des Erst-Screenings und der Ergebnisse der Alterseinschätzung)
  • Geeignete und situationsangemessene Unterbringung 
  • Materielle und medizinische Versorgung (Sicherstellung des notwendigen Unterhalts und Anmeldung in einer gesetzlichen Krankenversicherung)
  • Unverzügliche Bestellung eines Vormundes, ggf. erkennungsdienstliche Erfassung falls noch nicht erfolgt
  • Ausführliches (sozialpädagogisches) Clearing 
  • Aufenthaltsrechtliches Clearing (v.a. Klärung der aufenthaltsrechtlichen Perspektiven des jungen Menschen; ggf. Entscheidung über die Stellung eines Asylantrags) 

Die ION endet mit der Gewährung des Antrags auf Hilfe zur Erziehung (§27 SGB VIII), der vom Vormund/von der Vormundin beim Jugendamt gestellt wird, und der Unterbringung des jungen Menschen in einer Anschlussversorgung. Zu diesem Zeitpunkt sollten alle für eine Entscheidung zur Anschlusshilfe notwendigen Fragestellungen hinreichend geklärt sein. Bei der Übergabe in die Anschlussversorgung ist darauf zu achten, dass alle beteiligten Akteure (Jugendamt, Vormund, Einrichtung, junger Mensch) die jeweils notwendigen Informationen erhalten, die für die weitere Begleitung des jungen Menschen in der Anschlusshilfe notwendig sind.

Das Clearingverfahren

Der Begriff Clearing ist kein Rechtsbegriff und wird uneinheitlich gebraucht. In der Praxis meint Clearingverfahren grundsätzlich die Perspektivklärung im Rahmen der Inobhutnahme, also u.a. die Klärung des Hilfebedarfs, des Gesundheitszustands, der rechtlichen Vertretung sowie der Unterbringung. Die Inobhutnahme ist eine vorläufige Maßnahme und ist demnach auf nur kurze Zeit angelegt.

Ziel:

  • Klärung der individuellen Situation und der Perspektiven des/der unbegleiteten Minderjährigen zur Feststellung des Hilfebedarfs à Aufzeigen von Möglichkeiten der Hilfe und Unterstützung

Fokus:

  • Sozialpädagogisches Fallverstehen (unter Beteiligung des jungen Menschen) 
  • Der Prozess der sozialpädagogischen Diagnostik beginnt i.d.R. im Rahmen der Inobhutnahme und wird in den Anschlusshilfen (Hilfeplanung) fortgesetzt

Zuständigkeit:

  • Zuständig ist die fallführende Fachkraft des jeweiligen Jugendamtes – unter Beteiligung der betreuenden Einrichtung, des Vormunds und im Bedarfsfall von weiteren externen Personen (z.B. Therapeut*innen)
  • Die Inobhutnahme selbst (§ 42 Abs.1 SGB VIII) oder auch die „vorläufige Inobhutnahme“ (§ 42a SGB VIII) eines Minderjährigen kann wegen des hoheitlichen Charakters nicht auf andere Institutionen oder Personen übertragen werden. Sich daran unmittelbar anschließende Aufgaben wie z.B. das Clearingverfahren können gem. § 76 Abs. 1 SGB VIII auf anerkannte Träger der freien Jugendhilfe zur Ausführung übertragen werden. Eine solche Übertragung staatlicher Aufgaben auf einen freien Träger bedarf eines Beschlusses des Jugendhilfeausschusses.

Inhalte des Clearingverfahrens

Im Rahmen des Clearingverfahrens findet ein Erstgespräch durch das Jugendamt statt, das inhaltlich insbesondere die abgebildeten Themenbereiche umfasst.

Zusätzlich ist es für die individuelle Bedarfsermittlung und die konkrete Ausgestaltung der Anschlusshilfe hilfreich, eine Einschätzung oder Stellungnahme der fallverantwortlichen pädagogischen Fachkräfte der Jugendhilfeeinrichtung einzuholen, in dem der junge Mensch während der ION untergebracht ist. Diese basieren auf Beobachtungen im Alltag und den geführten Gesprächen und können somit über das Erstgespräch des Jugendamtes hinaus noch wichtige Erkenntnis-/Informationsquellen hinsichtlich des Hilfebedarfs des jungen Menschen sein. Folgende Aspekte können dabei eine Rolle spielen:

  • Familiärer und soziokultureller Hintergrund
  • Gesundheitlicher, psychischer und geistiger Entwicklungsstand
  • Sozialverhalten
  • Fähigkeiten und Ressourcen
  • Schulische Voraussetzungen und Lernverhalten
  • Alltagspraktische Selbstständigkeit
  • Traumatische Belastungen

Im weiteren Hilfeverlauf sollten die Informationen aus dem Erstgespräch des Jugendamtes sowie die Stellungnahme der pädagogischen Fachkräfte als Grundlagen für die Hilfeplanung (§36 SGB VIII) dienen. Es ist daher ratsam, auf eine sorgfältige Dokumentation zu achten. 


Quelle der Inhalte: Internetseite des B-UMF (https://b-umf.de/p/clearingverfahren-2/)

Die fachlichen Standards des Clearingverfahrens im Überblick

  • Schaffung einer vertrauensbildenden Atmosphäre und Umgebung 
  • Sicherstellung von Beteiligung 
  • Einbindung eines/einer muttersprachlichen Dolmetschers/-in 
  • Verständliche und altersentsprechende Aufklärung des jungen Menschen hinsichtlich seiner/ihrer persönlichen Situation während der Clearingverfahrens sowie möglichen Hilfsangeboten 
  • Kultur- und migrationssensible Haltung/Kommunikation
  • Traumasensibles Agieren (u.a. Gefühl der Sicherheit, Orientierung und Kontrolle vermitteln, Ressourcenorientierung; die Arbeit am Trauma den Expert*innen überlassen) 
  • Einfühlsame Gesprächsführung: Die Gesprächsführung erfordert ein hohes Maß an Geduld und Einfühlungsvermögen, und es kann erforderlich sein, das Gespräch in mehreren Einheiten durchzuführen, um eine langsame Öffnung zu ermöglichen.

Quelle: Internetseite des B-UMF (https://b-umf.de/p/clearingverfahren-2/)